RE: 9.tag
 
Üblicherweise werden Kommentare zum Start des Projekts abgegeben. Diesem haben wir in der LABfactory in der Eröffnungspräsentation Raum gegeben. Nach einiger Überlegung habe ich mich doch entschlossen das Projekt NO COMMENT mit einem „Klappentext“ zu versehen. Da AIKO das Projekt als dynamisches Geschehen denkt, fand ich es richtig damit etwas zu warten um zu sehen was sich, so zu sagen von selbst, um das Projekt entwickelt.

NO COMMENT kommentiert eben nicht und wir werden auch nicht mit Fragen strapaziert, wie das oft und gerne im zeitgenössischen Kunstkontext gemacht wird. Das Projekt stellt aber trotzdem, mit fast möchte ich sagen instinktiver Treffsicherheit, im zeitgenössischen Kunstkontext und Diskurs, die Schnittline gegenwärtiger Konfliktreibung her.
Die unpretentziöse Selbsverständlichkeit und Unaufgeblasenheit des Projektgeschehens gibt diesem aber auch die archaische Kraft – wie von Ausgrabungsgegenständen verschollener Kulturen.

Ich will jetzt nicht mit persönlichen Interpretationen langweilen, auch keine Analyse liefern, sondern nur einpaar Kontextlayer andenken die im lesen der „Landkarte“ des Projekts je unterschiedliche Schnittflächen ergeben –gerade auch hier im elektronischen Raum der ja im Zusammenhang mit dem Projekt ein zweites „Rückfenster“ offen hält.

Im soziopolitischen Layer drängt sich natürlich die viel zitierte rasch wachsende „Exhibitionsgesellschaft“ der elektronischen Mediengeneration auf.
Der Mensch der sich nur in seiner Konnektivität mit einem möglichst grossen elektronischen Sozialnetz in der Welt beziehungsweise existent fühlt. Ich will hier die Hintergründe wie z.B. das Manko an physischen Sozialkontakten etc. nicht weiter erörtern. Diese Diskurse finden sowieso anderswo zur Genüge statt und können als bekannt vorausgesetzt werden. Das Private Leben im Schaufenster, auf dem Display, lässt sich mit all seinen Blüten auf My Space, Facebook, YouTube und den unzähligen Blogs, und Internetforen täglich studieren.
Realityshows im Fernsehen waren da Anfang und jetzt noch Spitze des Eisbergs einer fast schon an Verzweiflung grenzenden Exhibitionismusdrangs der vor eigener Erniedrigung nicht zurückschreckt und das Ringen um Existenz abbildet. Damit auch etwas archaisches bekommt.
Dieser Sozialzustand steht in eigentümlicher Verbindung mit dem erschreckend rasant zunehmenden Überwachungsproblem, heisst Überwachungsoverkill und dem individuellen Kampf um Privatsphäre.
Hier wird auch die politische Konfliktzone sichtbar die zwischen zynischen selbstzerstörerischen Machtapparaten mit den dazugehörigen Führungsmenschen der Biopolitik und unappetitlichen Nebenerscheinungen und den einzelnen Individuen die diesen immer hilfloser ausgesetzt sind.
Dieses wird im Schaufesnter abstrakt. Abstrahiert, lassen sich die großen Gegenwartsprobleme auf Menschen zurückführen die den Respekt vor dem eigenen zur Welt kommen verloren haben , was jeder Zukunft die Perspektive nimmt.
Der resultierende Zynismus als Flucht vor dem eigenen Verlust, lässt sich auch im Kunstkontext immer häufiger finden! Im Kontext von NO COMMENT wird ein Zur-Welt-kommen zum abstrahierten Geschehen. Die Stille Bescheidenheit des individuellen ankämpfens gengen die Kapitulation vor den eigentlichen Problemen das minimalste Erfolgschance zu nutzen versucht.
Vielleicht ist es das was die, hier im Forum - bereits öfters erwähnte Melancholie oder Traurigkeit auslöst.
Auf der anderen Seite gibt die Versuchsanordnung auch eine Projektionsfläche für den menschlichen Hang zum Eskapismus, den ich auch hier in einpaar Kommentaren herauszuhören meine.
Ich will das gar nicht verurteilen, es ist nur verständlich.
Aber der Rückzug in eine eigentlich kindliche Märchenwelt, das Kind-bleiben-wollen
Steht dem Prozess, Progress des zur-Welt-kommens, das ja auch für die Einzelperson kein einmaliger Akt sondern permanentes Geschehen ist - ebenso im Weg.

Hier ist in der Situation ein Spannungsfeld hergestellt das sofort, wenn ich mich an den Ort begebe begreifbar wird
– durch die einfache Gegenüberstellung der PassantenInnen die einen zugigen Durchgang zielgerichtet passieren (müssen) und der zu extremster Langsamkeit gedehnten Aktion, die teilweise nur durch die Spuren und Zeichen die sie hinterlässt wahrnehmbar wird.
Die extremen Geschwindigkeitsunterschiede sind Elemente der Situation die die elementaren Interessenskonflikte erscheinen lassen. Die Beharrlichkeit an kleinen Dingen, bewusst abseits des Rampenlichts, in die Öffentlichkeit zu stellen erzeugt die Installation.
Es ist also nicht nur die Aktion und das sich daraus ergebende Objekt sondern erst die Situation in der der Kontext entsteht.
Spuren hinterlassen und Landkarten zeichnen ist einfache Handlung und Performance.
Das Ambiente erinnert vielleicht an den spanischen Maler Tapies, nur das es den zeitgenössischen Kontext bereits eingeschrieben hat.
Es wird hier nicht behauptet das es sich um ein Werk – der bildenden Kunst – handelt.
Sondern ist der vergänglicher Prozess einer Performance, ohne aber die Behauptung eine Performance ein Akt von Bühnenkunst zu sein aufstellt.
Begriffe die schon seit hundert Jahren nicht mehr haltbar sind und nur im Kontext des Marktes Sinn machen und sozusagen wider besseren Wissens nur durch Behauptung bestehen können, entblößen sich angesichts eines durchlöcherten Packpapiers.

NO COMMENT schliesst eine Runde von Projektversuchen zum Thema in der LABfactory ab. – Die absolute Einfachheit und Reduktion der Mittel schafft, meiner Meinung nach, die Verbindung zu der elementaren archaischer Erinnerung, womit es existentiell wird und Kategorien wie konkret oder abstrakt genauso wie die Hilfskategorien Performance oder Bildende Kunst sprengt. Und sich generell einer kategorisierenden Betrachtung beharrlich entzieht.
Der im vorigen Kommentar zitierte Seiltänzer referiert ja auch auf einen anderen Maßstab.

Ich hoff damit noch etwas Diskussionsstoff geliefert zu haben
Und sende Grüße - vor allem dir AIKO -
aus dem fernen Shanghai

Thomas







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