Vom Autor zum Nichtleser.
681 Wörter 2 Mai 2001
Frankfurter Allgemeine Zeitung - Forschung und Ent
Deutsch
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Im Hypertext navigiert der Leser längst nicht so frei, wie allgemein angenommen wird.
In Hypertexten sind verschiedene Texte oder Textstellen per "Hyperlinks" oder kurz "Links" miteinander verknüpft. Durch die Wahl des Links entscheidet der Leser, wie für ihn der Text weitergeht. Der Leser wird also nicht am Anfang an die Hand genommen und sicher ans Textende geleitet wie beim gedruckten Text. Es ist gar nicht einmal klar, wo der Anfang ist, ob es überhaupt einen gibt oder wo man sich gerade befindet, wenn man in das Hypertextgebilde eingestiegen ist. In der Hypertext-Theorie wird allgemein angenommen, daß der Leser eines Hypertextes endlich von der Gängelei durch den linearen Verlauf des Textes befreit sei. Er werde sogar dem Autor ähnlich, werde zum "wreader", wie es der Amerikaner George P. Landow formulierte, also zu einem Mischwesen aus Autor (writer) und Leser (reader). Denn durch seine Verknüpfung der Lexien, der einzelnen Textpassagen, erschaffe er sich "seinen" eigenen Text. Kaum zwei Leser, so heißt es, läsen innerhalb einer Hypertextkonstruktion denselben Text. Karin Wenz hat sich nun gefragt, inwiefern Hypertexte tatsächlich anders gelesen werden als entsprechende lineare Texte. Sie hat zwei Gruppen von Versuchspersonen ein Gedicht vorgelegt, einmal in gedruckter Form und einmal als Hypertext. Dabei zeigte sich, daß sich der Leser gar nicht so frei im Hypertext bewegt, wie es die Theorie gern annimmt (Karin Wenz, "Vom Leser zum User? Hypertextmuster und ihr Einfluß auf das Leseverhalten", in: Sprache und Datenverarbeitung, Bd. 24, Heft 1, Institut für angewandte Kommunikations-und Sprachforschung, Bonn 2000). Zunächst einmal kann der Leser überhaupt nur dort springen und Texte kombinieren, wo ihm der Programmierer Hyperlinks anbietet. Dabei sind aus der Sicht des Progammierers Hyperlinks aber keine Sprungbretter ins Offene oder Ungewisse, sondern zu fest definierten Zielen. Das heißt, dem "Wreader" stehen überhaupt nur bestimmte, vom Programmierer festgelegte Möglichkeiten zur Wahl. Der Leser eines Buches dagegen verfügt über ein größeres Maß an Freiheit: Er kann beliebig viele Zeilen oder Seiten überspringen, ohne daß festgelegt ist, wo er wieder ankommt - und er kann trotzdem weiterlesen. Auch die Wahl der Links ist nicht völlig in das Belieben des Lesers gestellt: In Wenzels Versuchen zeigte sich, daß visuell markierte Links in der Regel zuerst gewählt werden, solche also, die zum Beispiel durch kursive oder fette Schrifttypen hervorgehoben sind. Wenn als Link zugleich ein Text und ein Bild angeboten werden, wählen die Rezipienten in der Regel eher das Bild zum Absprung. Wird kein Link besonders hervorgehoben, wählen die meisten Cybernauten den ersten Link einer Seite. Es läßt sich offenbar gut bestimmen, welcher Link vom Rezipienten gewählt wird. Auch wenn der Leser im Hypertext nicht so frei navigieren kann, wie allgemein angenommen wird, unterscheidet sich die Lektüre eines elektronischen Hypertextes dennoch von der eines gedruckten Textes: Frühere Forschungen haben schon gezeigt, daß ein Leser mit zunehmender Verweildauer im Hypertext unruhiger wird und zunehmend schneller liest. Solche Effekte lassen sich zum Teil aus der Anlage des Hypertextes erklären, denn zirkuläre Strukturen, bei denen der Rezipient wiederholt auf dieselbe Seite stößt, verführen ihn, wie Wenzels Versuche zeigen, zum "Browsen", zum Blättern und zum überfliegenden Lesen. Erst wenn er zum fünften Mal auf dieselbe Seite stößt, verweilt der Leser wieder länger auf ihr, vermutlich deswegen, weil er sie nun für wichtiger hält. Bemerkenswert ist jedoch, daß der Text im Hypertext von den Rezipienten gar nicht unbedingt als vollständig zu lesender wahrgenommen wird. Je nach individuellem Mediennutzungsverhalten nähern sich die Rezipienten dem Hypertextgebilde verschieden: Wer zum Beispiel beim Fernsehen gern zappt, der tendiert auch im Hypertext eher zum Browsen. Leser, die viel Erfahrung mit Computerspielen haben, schauen sich auch im Hypertextraum um. Sie verfolgen eine forschende Strategie, sie wollen wissen, wie der Text aufgebaut ist und was es dort zu finden gibt. Kurios ist, daß offenbar nur diejenigen versuchen, einen Hypertext Wort für Wort zu lesen, die keine oder sehr wenig Erfahrung mit dieser Textform haben. Diese Herangehensweise verliert sich jedoch rasch mit zunehmender Übung. Für die Rezeption von Hypertext sind Wenzel zufolge Erfahrungen mit den verschiedenen elektronischen Medien hilfreich, während das an Büchern geübte aufmerksame Lesen als die am wenigsten adäquate Rezeptionsweise gilt. MARTIN KLAUS.
Dokument fazfue0020010711dx52000uk