Haben wir verlernt, vergangenes Komponieren wie eine kräftige Nahrung zu uns zu nehmen?
1,910 Wörter 12 Juli 1997
Die Presse
Deutsch
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Der Druck der Vergangenheit liegt als Lähmung und herausfordernde Vorgabe, als Maß über dem neuen Schaffen. Er bewirkt eine Flucht vor der Verantwortung; man gibt das Komponieren auf, weil man gegen den Kollegen Beethoven oder Schubert sowieso nicht aufkommt. Der "Mann ohne Eigenschaften" steht hier Pate, man kommt gar nicht zum Komponieren, weil es sowieso keinen Sinn hat, weil die Konkurrenz der Historie so stark ist und es eigentlich für die Allgemeinheit wichtiger zu sein scheint, Beethoven und Bach oder Verdi und Wagner, El Greco, Cervantes und Goethe in hervorragender Präsentation zu konsumieren, als sich beim Konkurrenzunternehmen "Zeitgenössische Kunst" zu versorgen. Damit kommen wir zur zweiten Seite des Problems: nämlich der, jeden wie immer gearteten historischen Ballast über Bord zu werfen, das heißt blind einer Originalität als Fetisch zu huldigen. "Anders als bisher Kunst zu schaffen" wird zur Ideologie der Innovation.
Durch den Druck der Historie wird die Gegenwart nur insofern bedeutsam, als diese richtungsweisend für die Zukunft ist; radikalisiert man diese Tendenz, bleibt die Gegenwart als Vakuum zurück oder nur als Präsentationsform des Vergangenen. Verstärkt wird dies durch die von Angebot und Nachfrage bestimmten Medien. Medial verwertbar ist nur, um mit Hegel zu sprechen, der "Geschäftsführer des Weltgeistes" in Sachen Musik oder derjenige, der dazu gemacht wird, weil er verwertbar ist, das heißt in den gerade bestimmenden Trend paßt. Die Tragik besteht darin, daß das mit dem, was man eigentlich will, nichts zu tun hat. Man will Kunst machen, schafft aber eigentlich etwas ganz anderes, nämlich den Bruch zwischen Individuum und Kunst. Auf der Strecke bleibt der Mensch, der in diesem System nicht mehr von Bedeutung ist, obgleich sich das ganze Pathos auf ihn richtet. Die Bestimmbarkeit der Qualität richtet sich nach Kriterien, welche von den Medien im weitesten Sinne des Wortes aufgestellt werden. Und die Kriterien sind reduziert auf zwei wesentliche Begriffe, nämlich: Was entspricht dem Zeitgeist (= Publikumsgeschmack), und wie ist dies nun öffentlichkeitsmäßig, also medial verwertbar? All das führt zur Ertaubung und Verblendung der Welt, resultierend aus der nicht vorhandenen Bereitschaft, sich mit dem Klingen und Sehen unserer heutigen Zeit zu befassen. Der Sprachverfall, die Verwahrlosung der Begrifflichkeit im Denken sind hiefür nur Beispiele. Man könnte einwenden, daß von einer Ertaubung, Erblindung und Gedankenlosigkeit der Welt gar nicht geredet werden kann: Noch nie haben so viele Menschen soviel Kunst konsumiert. Noch nie ist soviel Literatur verkauft worden, und noch nie hörten so viele Menschen Musik. Doch die Problematik zeigt sich in der unglückseligen Differenz von U-und E-Musik, stellvertretend für andere Kunstgattungen. Kurz gesagt: U ist die divertierende, angenehme, E ist die ernste, schwere, belastende Musik. Und wir müssen uns vor Augen halten, daß gerade die Unterhaltungsmusik einen bedeutsamen Platz in unserer Gesellschaft einnimmt, sowohl in gesamtkultureller als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Vielleicht freilich ist die Unterscheidung von U-und E-Musik gar nicht so unglückselig, vielleicht ist sie historisch berechtigt, sinnvoll und unserer Musiksituation, ja unserer Lebenssituation adäquat. Das Divertieren ist heute eine Notwendigkeit, so wie es immer eine Notwendigkeit war, weil der Mensch ohne dieses Entlastungsmoment gar nicht leben kann. "Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", meint Friedrich Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. Das Divertieren im Verständnis des Barocks allerdings, noch zusammengehalten durch den Begriff eines integrierten, umfassenden Seinverständnisses, in welches Musik eingebettet war, ist verlorengegangen und für immer verloren. Der Verlust mag tragisch sein, aber es ist eben so. Auch James Joyce' Ulysses erhebt im Lesen einen Anspruch, dem nicht mehr mit dem Divertieren und der Entspannung und dem sich Loslösen aus dem Berufsleben beigekommen werden kann. Dies mag der Grund sein, warum beispielsweise dieser Roman von so vielen ungelesen nach wenigen Kapiteln weggelegt wird. "Die Tatsache, daß so viele interessierte Leser bekennen müssen, den Ulysses zwar angefangen, nicht aber zu Ende gelesen zu haben, läßt sich nur zum Teil mit den Schwierigkeiten des Textes erklären", meint Therese Fischer-Seidel in dem Band "Neuere deutsche Aufsätze zu James Joyce',Ulysses'". "Diese Schwierigkeiten - biographische und lokalspezifische Hintergründe und das Geflecht literarischer Verweisung und Anspielung - sind, genau besehen, dem Verständnis weniger hinderlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Eher ist eine Erklärung für das Resignieren mancher Leser in dem vom Herkömmlichen abweichenden Leseverhalten zu suchen, das der Ulysses fordert." Heutige Kunst fordert intellektuelles Auseinandersetzen, und intellektuelles Auseinandersetzen ist das Denken über die Weltbetroffenheit. Die Weltbetroffenheit ist einfach eine andere als zur Zeit Bachs beispielsweise, und der beziehungsvolle Ausspruch Schuberts "Gibt es überhaupt lustige Musik?" verdeutlicht diese Problematik. Die Frage seit Schubert lautet: Kann ich in meiner Weltbetroffenheit überhaupt noch lustige Musik schreiben, oder ist dies gar nicht möglich? Erlaubt das intellektuelle Auseinandersetzen dies überhaupt noch? Oder, wenn ich lustige Musik schreiben möchte, bin ich dann sofort im "Easy listening" und kann gar nicht den intellektuellen Anspruch historisch erreichten Maßes für meine geistige klingende Auseinandersetzung mit der Welt anmelden? Dies scheint auch der Grund, warum Unterhaltungsmusik, trotz aller Primitivität des kompositorischen Niveaus, oft ehrlicher erscheint als so manches sich intellektuell gerierendes neues Tönen, das dem Fetisch der Originalität um jeden Preis huldigt. Solches Komponieren gibt etwas vor, was es nicht hat, nämlich denkende Auseinandersetzung mit der Welt im Sinne eines geistigen Klingens. Es ertönt nicht mehr das, was der Komponist sagen will, sondern nur mehr das, wie er etwas sagen möchte, wobei dieses Etwas inhaltlich gar nicht mehr bestimmt ist. Nicht der fertige Bau, die Komposition, ist entscheidend, sondern das Verfahren, die Skizze, der Weg zum Bau. Es scheint mir höchst interessant zu sein, einen Komponisten zu genau diesem Problem zu zitieren. Pierre Boulez schreibt: "Kommen wir zur Musik zurück. Das allgemein erwählte Vorbild: Webern; sein hauptsächlichstes Forschungsgebiet: die Organisation der Klangmaterie. Man erarbeitet gewisse Schlußfolgerungen, die man geflissentlich ausbaut, indem man sie erweitert; man stürzt sich mit wahrer Inbrunst auf die Organisation; man glaubt sich an der Schwelle unentdeckter Welten - das Gelobte Land oder Babel wären als Vergleiche kaum unangebracht. Webern hat nur die Tonhöhen organisiert; jetzt organisiert man den Rhythmus, die Klangfarbe, die Dynamik; alles wird zum Futter für diese monströse, polyvalente Organisation, die man schleunigst aufgeben sollte, will man sich nicht selbst zur Taubheit verurteilen. Man wird bald erkennen, daß die Verwechslung von Komposition und Organisation - die Webern nie in den Sinn gekommen wäre - mit geradezu verheerender Inhaltslosigkeit bestraft wird." Fast tragisch-prophetisch anmutende Worte. Adorno demaskiert das sehr schön in seiner "Ästhetischen Theorie", er spricht von der Enträtselung des Kunstwerkes, von der Entkunstung der Kunst, damit aber eigentlich von der Bankrotterklärung der Musik. Adornos "Rätselcharakter der Kunst" sowie Walter Benjamins "Aura des Kunstwerkes" sind Begriffe, die eben genau in eindringlicher Weise Kunst beschreiben. Es geht um jene Notwendigkeiten, die der Kunst zukommen müssen, ja die sogar konstitutiv für Kunst sind, weil der Kunst immer ein Moment der Unerklärbarkeit, des nichtobjektiven Aufgehens in der Realität inhärent ist. Intellektualität, die sich als muskelstrotzende geistige Selbstgenügsamkeit im Glasperlenspiel erschöpft, verliert ihren Bezug zum Menschen. Die Auseinandersetzung mit dem Dasein impliziert Weltbetroffenheit, und diese kann sich nicht im leeren Spiel oder in der Eliminierung des Individuums artikulieren. Systeme, in welchen der Mensch nicht mehr vorkommt, mögen intellektuell hochstehend sein, bleiben aber trotz allem unmenschlich. Kunst, die nur zur Kunst Stellung bezieht, die also im L'art pour l'art verharrt und sich nicht um die Daseinsbewältigung des Menschen in seiner Welt kümmert, wird zwangsläufig inhuman. Schubert fragt sich, ob seine Musik, seine tönende Weltsicht, noch als lustig bezeichnet werden kann. Setzt nicht gerade hier, in der Romantik, ein Lebensgefühl ein, welches uns bis heute in höchstem Maße bestimmt, dessen wir uns aber gar nicht so bewußt sind oder bewußt sein wollen? Seit damals ist das Gefühl, sich mit der Welt als vorgegebener Natur in grundsätzlicher Einheit zu befinden, verloren. Die Schubertsche Forelle ist kein Fisch alleine. Sie ist ein Symbol für den fragenden Menschen, der sich mit dem stummen Fisch eins fühlen möchte. Als Derivat bleibt nur die Sehnsucht nach der Einheit des Lebens mit der Welt und der Natur. Dies stellt ja den Grundgedanken der Romantik schlechthin dar und wurde von Friedrich Hölderlin mit den Worten beschrieben: "Eins werden mit allem, was lebt." Wir leben in einer Zeit, die diese Sehnsucht nach Geborgenheit und Einheit in höchstem Maße verspürt, in einer Renaissance der Romantik, wenn man so will. Man spricht vom sterbenden Wald und meint sich selbst, weil man sich mit diesem Wald eins fühlen möchte. Die Liebe zu allem, was lebt, ist die Vertreibung des Leidens am sinnlosen Leben. Eine Entwicklung, die noch vor 20 Jahren als in höchstem Maße nichtintellektuell angesehen worden wäre. Komponieren ist die geistig klingende Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Welt. Die Betonung liegt auf seiner Welt, denn er ahmt sie nicht nach, sondern er schafft sie für sich selbst und, so darf er hoffen, auch für andere neu. Verdi hat das treffend formuliert, wenn er sagt, daß das Erschaffen der künstlerischen Wirklichkeit weit höher zu bewerten ist als die Nachbildung der Natur. Eine Besinnung auf diese Eigenständigkeit menschlicher Tätigkeit scheint mir angebracht. Sie impliziert Bescheidenheit und Demut vor dem bereits vor uns Geschaffenen und Geleisteten und in gleichem Maße Selbstbewußtsein, die Welt und das Dasein klingend geistig zu erfassen und damit etwas auszudrücken zu haben. Banal gesagt: Es gehört viel Mut dazu, heute zu komponieren, sich zu offenbaren, einen Teil seines Ichs herzugeben oder zumindest herzuzeigen. Mit ein paar hingetupften Noten im Sinne eines auf Webern sich berufenden punktuellen Stils ist genausowenig getan wie mit der - was immer man darunter versteht - Neuen Einfachheit, die in ihrer antistrukturalistischen Klangsprache sich pseudoromantisch gebärdet. Wenn der künstlerische Geist und die Motivation des Komponisten, sich mit seiner Musik mitzuteilen, sein Ich herzuzeigen, nicht vorhanden ist, bleiben auch Klangmassen à la Mahler und Notentupfer à la Webern eben nur leer. Webern wie Mahler, um bei diesen beiden Giganten zu bleiben, erfüllten diese Töne mit ihrem inneren Leben, mehr noch, sie gaben ihnen Leben, und so ließen sie diese auch erklingen. In Liebe eins geworden mit allem, was lebt, weil man dieses Leben ja selbst geschaffen hat. In diesem Punkt vereinigen sich Ästhetik und Ethik; auch der autonome Künstler neuzeitlicher Prägung ist von der Moral nicht entlassen. An Immanuel Kants Symbolgehalt des Schönen in der Sittlichkeit hat sich nichts geändert: "Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden", schreibt Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft", dann dienen sie "nur zur Zerstreuung, deren man immer desto bedürftiger wird, als man sich ihrer bedient, um die Unzufriedenheit des Gemüts mit sich selbst dadurch zu vertreiben, daß man sich immer noch unnützlicher und mit sich selbst unzufriedener macht." Als im Leben Stehender hat der neuzeitliche Künstler historisch zu wissen, was bereits geleistet wurde, hat in höchster Verantwortung gebildet zu sein, das heißt das geistige und das seelische Umfeld seines und des Lebens seiner Vorfahren reflektierend erfaßt zu haben, um es in seiner Kunst einzubringen. Friedrich Nietzsche warnt davor, daß die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird. Es gehört Mut dazu, zu komponieren und nicht zu lügen; Nutzen und Nachteil sind in diesem Risiko so miteinander verwoben, daß man es eben jenem die Kunst bestimmenden Rätselcharakter zuschreiben muß, warum man es tut. Eines aber ist sicher, man muß es tun, denn, um mit Ingeborg Bachmann zu schließen: "Wir brauchen Musik, das Gespenst ist die lautlose Welt."
Dokument diep000020011001dt7c00e9g