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Wenn du reich bist, bist du frei.

Die Religion als Sinnstifter ist abgelöst worden durch die Wirtschaft und den Konsum: Joachim Koch setzt an zu einem großen Wurf
741 words
12 March 2002
Financial Times Deutschland
German
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Von Christian Maschek Der Börsenboom war nur ein Anzeichen für noch tiefer greifende Veränderungen: die Revolution der Wirtschaftsphilosophie. Wo früher die Vernunft regierte und noch früher der Glaube, geht es heute nur noch um Geld, Geld und nochmals Geld.

Der Mann, der mit dieser fast frivolen These mit der Tür ins Haus fällt, ist Philosoph und heißt Joachim Koch. Doch was hat Philosophie mit Geld oder gar Wirtschaft zu tun? Koch behauptet: eine ganze Menge. Er enttarnt die Ökonomie als "Megaphilosophie".

Der Superlativ ist Programm: Megaphilosophien hätten wenig mit abstrakten Wolkengebilden aus dem Dunstkreis der Akademiker zu tun. Im Gegenteil: Megaphilosophien, sagt der 47-jährige Wissenschaftler, seien durch und durch praktisch und spiegeln die Weltanschauung einer ganzen Gesellschaft wider. Sie erklären nicht die Welt, sondern gestalten sie. Megaphilosophien entwickeln einen Allmachtsanspruch: "Entweder - oder" heißt ihre Maxime. Spiel mit, oder du kommst auf die Ersatzbank.

Befreites Individuum

Im Mittelalter hieß die Megaphilosophie "Religion". Sie machte ein Sinnangebot, steckte den moralischen Rahmen ab und generierte eine eingeschworene Gemeinschaft in der Kirche. Die Aufklärung befreite das Individuum und entstaubte den Muff von tausend Jahren. An die Stelle der höheren Macht kam der Staat, und kirchliche Gebote wurden durch eine bürgerliche Ethik ersetzt. Der größte Clou war die Idee der Nation, die Bande knüpfte, wo sonst Kleinstaaterei gewaltet hatte. Doch die Gegenaufklärung lag schon auf der Lauer. Die Nationalökonomie und die von Adam Smith viel beschworene "unsichtbare Hand" bereiteten den Weg zum Sieg der Ökonomie.

Mit Scharfsinn und Witz zeichnet Koch ein kritisches Bild der Gesellschaft im 21. Jahrhundert und liefert nebenbei eine ausführliche Sozial-und Geistesgeschichte. Sein Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Philosophie würde einen Jostein Gaarder vor Neid erblassen lassen.

Koch treibt diesen Aufwand, um zu zeigen, wie sich die Ökonomie in alle Lebensbereiche eingeschlichen hat und heute Handeln und Denken bestimmt. Kunst, Politik und sogar Liebe orientierten sich immer häufiger an den Sinnvorgaben der Ökonomie.

Darüber kann man streiten. Unstrittig ist jedoch: Was die Soziologie vor Jahrzehnten nicht wahrhaben wollte, hat sich längst etabliert. Die persönlichen Nutzenentscheidungen des "Rational Choice" machen sich überall breit. Das bürgerliche Familienmodell ist dabei genauso in die Brüche gegangen, wie die Solidarität in der Gesellschaft. Schuld daran, sagt Koch, sei der Individualismus: eine Errungenschaft der Aufklärung, die sich aber allzu schnell als Büchse der Pandora entpuppt hätte. Individualität heißt Freiheit, aber auch Einsamkeit und Suche nach Sinn. Dieses Vakuum habe die Ökonomie gefüllt - allerdings nur mit Luftblasen, wie Koch kritisch bemerkt. An die Stelle der Kirche im Mittelalter und den Staat in der Aufklärung sei das Unternehmen getreten. Wachstum und Produktion sind die neuen Werte. Die Moral und Heilsversprechen der Ökonomie sind ganz einfach: "Wenn du reich bist, bist du frei."

Wer versagt, hat selbst schuld

Das Perfide an diesem Heilsversprechen: Wer versagt, ist selbst schuld. Die Ökonomie macht ein Heilsversprechen, das jeder selbst einhalten muss. Sonst droht das "Gespenst der Nutzlosigkeit", wie es der amerikanische Soziologe Richard Sennett einmal formuliert hat. Konsum ist das einzige Sinnangebot.

Noch bis in die 80er Jahre hatte sich die Philosophie der Ökonomie bedient, um sich selbst zu rechtfertigen - jetzt ist es umgekehrt. Wie schon der Soziologe Norbert Bolz bemerkte, wird die Philosophie dringend für die "Wirtschaft des Unsichtbaren" benötigt: Marken werden mit Sinnangeboten aufgeladen. Sie reflektieren ein Lebensgefühl, müssen emotionalen Mehrwert bieten. Erfolgreiches Wirtschaften steht und fällt mit erfolgreichem Marketing.

Doch weder Bolz noch Koch sehen die absurde Perversion, die hinter diesem Mechanismus steckt: Gerade wegen der Künstlichkeit dieser Sinnangebote laufen sie dem Nutzenkalkül entgegen. Wirtschaft funktioniert angeblich nur noch mit Visionen, die der Gesellschaft Sinn versprechen, auch wenn es nur ein Turnschuh ist.

Der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte einmal, "Wer Visionen hat, gehört ins Krankenhaus". Heute dürfte sich keiner mehr ohne Vision in einer Führungsposition blicken lassen. Was Schmidt wohl ahnte, nennt Koch beim Namen: Der Handlungsrahmen der Politik sei längst ebenfalls von der Wirtschaft untergraben worden. Nur wenn Entlassungen drohen, müsse der Sozialstaat einspringen: "Das kann man zusammenfassen als Privatisierung des Gewinns, Sozialisierung des Verlusts."

Auch wenn der Eindruck entstehen kann: Koch verteufelt die Wirtschaft nicht. Seine eigene Karriere begann er als Geschäftsführer einer Philosophie GmbH. Seine berechtigte Kritik richtet sich nicht gegen das "Was" sondern das "Wie". Dem "Entweder-oder" stellt er das "Sowohl-als-auch" entgegen: Wirtschaft und Philosophie müssen sich ergänzen - und nicht nur gegenseitig instrumentalisieren.

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