Factiva Dow Jones & Reuters

Der Glaubenskrieg um die Globalisierung.

Von PETER ULRICH.
1,818 words
1 February 2002
Tages Anzeiger
German
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Eine vernünftige Globalisierungspolitik ist die grosse Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Der Markt kann nicht wissen, wofür er effizient sein soll - wir müssen es ihm mittels geeigneter normativer Vorgaben schon sagen.

Konferenzen über die globale Öffnung von Märkten ("Liberalisierung") finden heutzutage hinter sehr lokalem Stacheldraht statt. Sie sind damit zu Symbolen des gesellschaftspolitischen Konflikts um die Globalisierung geworden. Offenbar geht es da um viel - viel Weltanschauung, viel Macht, viele Interessen. Zur Debatte stehen die ideologischen Grundlagen der sich real entwickelnden Weltwirtschafts(un)ordnung: Um die Globalisierung tobt ein Glaubenskrieg. Für die einen, die "Globalophilen", ist sie nahezu ein Heilsversprechen, für die anderen, die "Globalophoben", eher ein Teufelswerk. Und wo steht die praktische Vernunft?

Die Metaphysik des freien Marktes

"Macht keine Geschichten, der Markt wirds schon richten" - so lautet im Kern die marktmetaphysische Heilsgewissheit. Sie wurzelt in vormodernen schöpfungstheologischen Harmonieüberzeugungen. Gemäss der altliberalen Wirtschaftsdoktrin gilt der "freie" Markt als "natürliche" Wirtschaftsordnung, die Anteil an der von Gott bestens eingerichteten Schöpfungsordnung hat. Daher darf darauf vertraut werden, dass hinter dem naturwüchsigen Kräftespiel des Wettbewerbs die "unsichtbare Hand" Gottes - Adam Smiths berühmte "invisible hand" - in segensreicher Weise waltet. So lehrte etwa der französische Ökonom Frédéric Bastiat (1801-1850) in seinem klassischen Werk "Harmonies économiques": "Ich glaube, dass Er, der die materielle Welt geordnet hat, auch die Ordnung der sozialen Welt nicht auslassen wollte. Ich glaube, dass Er die frei Agierenden ebenso zu kombinieren und in harmonische Bewegung zu setzen wusste wie die leblosen Moleküle. Ich glaube, es ist für die allmähliche und friedliche Entwicklung der Menschheit ausreichend, wenn diese Tendenzen ungestörte Bewegungsfreiheit erlangen."

An die klaren Schlüsse, die Bastiat daraus zog, glauben die letzten Mohikaner des Marktfundamentalismus noch heute: "Unablässig und ohne Mitleid sollen wir uns deshalb dafür einsetzen, den ganzen Bereich privater Aktivitäten freizusetzen vom Vordringen der (staatlichen, der Autor) Macht; allein unter dieser Voraussetzung werden wir die Freiheit oder das freie Spiel der harmonischen Gesetze gewinnen, die Gott für die Entwicklung und den Fortschritt der Menschheit bereitgestellt hat."

"Ungestörte Bewegungsfreiheit" für "den ganzen Bereich privater Aktivitäten" ist also geboten, "ohne Mitleid" für die Verlierer. Denn moralisch verdächtig sind in diesem Weltbild nicht etwa diejenigen, die rücksichtslos ihren eigenen Vorteil maximieren, sondern vielmehr die wirtschaftlich Erfolglosen. Gerade im "Geldsegen", der bei den Tüchtigen eintrifft, manifestiert sich, dass ihr Tun vor Gott wohlgefällig ist. Nicht zufällig beobachtete Max Weber in seiner berühmten Studie "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" die "auffallend häufige Erscheinung, dass aus Pfarrhäusern kapitalistische Unternehmer grössten Stils hervorgehen".

Auffällige soziale Härte

Kein Zufall ist auch die auffällige soziale Härte, die den religiös verbrämten Wirtschaftsliberalismus stets gekennzeichnet hat. Schliesslich wäre es eine ketzerische "Anmassung von Wissen" (F. A. von Hayek), die Welt besser einrichten zu wollen als Gott. Oder in Adam Smiths Worten: "Die Verwaltung des grossen Systems des Universums, die Sorge für die allgemeine Glückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen, ist indessen das Geschäft Gottes und nicht des Menschen." Von daher erklärt sich wohl die kreuzzugartige Verbissenheit, mit der die Wirtschaftsliberalen die soziale Frage, die sich im "grossen Boom" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfte, negierten und ihre Laissez-faire-Doktrin verteidigten.

Die katastrophalen Ergebnisse sind bekannt: zunehmende politische Radikalisierung - Faschismus auf der einen, Kommunismus auf der anderen Seite -, schliesslich der Zweite Weltkrieg und 45 Jahre Eiserner Vorhang in Europa. Unter dem Eindruck des Kalten Krieges bildete sich in der Nachkriegszeit immerhin so etwas wie ein "sozialdemokratischer Kompromiss" (Ralf Dahrendorf) heraus. Der kommunistischen Gefahr galt es die soziale Marktwirtschaft und ihr Credo des "Wohlstands für alle" entgegenzustellen. Ordnungstheoretisch untermauert wurde die neue Wirtschaftsphilosophie durch den "Ordoliberalismus", für dessen Credo folgende berühmten Worte von Wilhelm Röpke ("Jenseits von Angebot und Nachfrage", 1958) stehen können: "Die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muss in eine höhere Gesamtordnung eingebettet werden, die nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann."

Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wurde die Notwendigkeit, die kapitalistische Marktwirtschaft sozial einzubinden, geringer. Nun konnte die in den Augen der Wirtschaftsliberalen immer schon fragwürdige sozial-und wohlfahrtsstaatliche Entwicklung wieder ungeniert als "unbezahlbar" gebrandmarkt und nach "Deregulierung" gerufen werden. Um sich ideologisch zu rechtfertigen, bot die fortschreitende Globalisierung das Sachzwangargument vom internationalen Standortwettbewerb. Dieser ist immer zugleich ein Wettbewerb der nationalen politischen Rahmenordnungen. Soweit die Kosten des Sozialstaats die Attraktivität eines nationalen Standorts für das mehr oder weniger frei um die Welt flottierende, anlage-und renditesuchende Kapital mindern, lässt sich die sozialpolitische Einbindung des Kapitalismus als "volkswirtschaftlich schädlich" ausgeben. Das gilt zumindest so lange, wie "die" Volkswirtschaft quasi wie ein Kollektivsubjekt betrachtet und von der gesellschaftlichen Verteilung von Kosten und Nutzen abgesehen wird.

Die weltweiten Folgen des entfesselten globalen Standortwettbewerbs beginnen diese kommunistische Fiktion vom Gemeinwohl des Wirtschaftsliberalismus allerdings zunehmend zu widerlegen. Die statistisch nachweislich immer steilere Einkommens-und Vermögensverteilung zwischen den einzelnen Volkswirtschaften ebenso wie innerhalb von ihnen entlarven die ausgeprägte Parteilichkeit der Logik des Marktes.

"Entwicklung als Freiheit"

Längst kann, wer es wirklich wissen will, sich von Erkenntnissen der Entwicklungsökonomie und - soziologie belehren lassen: Eine voraussetzungslose Deregulierung der Märkte ist alles andere als die Basis für eine nachhaltige Entwicklung. Nicht die Liberalisierung der Märkte, sondern die Befreiung der Menschen aus der strukturellen Ohnmacht, nicht selbst für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können, ist der entscheidende Hebel. "Entwicklung als Freiheit" lautet denn auch kurz und bündig das Motto des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen. Auf diese von den meisten Entwicklungsexperten heute vertretene Einsicht stützt sich mit gutem Grund inzwischen auch das Entwicklungsprogramm der Uno (UNDP).

Der entscheidende Punkt ist die Ermächtigung der Menschen zur wirtschaftlichen Selbstbehauptung. Das setzt einerseits voraus, dass sie Zugang zu Bildung und Ausbildung haben; andererseits ihnen das Recht zugesprochen wird, ein selbst bestimmtes Leben zu führen und sich auf der Basis von Bürgerrechten wirtschaftlich zu betätigen. Zu ihnen gehören neben den elementaren Persönlichkeits-und Bürgerrechten unverzichtbar auch sozioökonomische Rechte auf den Zugang zu nötigen Ressourcen wirtschaftlicher Tätigkeit sowie auf die Versorgung mit Grundgütern, ohne die ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist.

Der Primat der Politik

Vielleicht ist damit der Leitgedanke einer anderen Globalisierung umrissen, der den Kerngehalt einer vernünftigen Kritik an der bisher dominierenden Form von Globalisierung ausmacht: einer Form, die noch immer alles Heil von der (nicht ganz) "unsichtbaren Hand" des Weltmarkts erwartet und die soziokulturellen und institutionellen Voraussetzungen einer sinnvollen und legitimen Entwicklung missachtet.

Es ist die epochale

Herausforderung des 21. Jahrhunderts, die Weltwirtschaft in eine supranationale Rahmenordnung einzubinden, die vorrangig den vitalen Bedürfnissen und legitimen Ansprüchen der Menschen dient. Daraus folgt systematisch der Primat der Politik vor der Logik des Marktes. Dem steht bis anhin die marktradikale Doktrin entgegen, begrüsst sie doch die Globalisierung just deshalb so sehr, weil sie in ihr die grösste Chance für die Entmachtung der Politik sieht. Die "Disziplinierung" nationaler Politik durch die Sachzwanglogik des globalen Standortwettbewerbs wird von dieser Seite nicht als Problem, sondern als die Lösung fast aller Probleme aufgefasst.

An dieser Stelle ist zunächst eine partielle Ehrenrettung des Neoliberalismus angezeigt. Entgegen einem undifferenzierten Gebrauch des Schlagworts "Neoliberalismus", wie es sich in den Medien durchgesetzt hat, vertritt die neoliberale Konzeption der Ordnungspolitik sehr wohl den Primat der Politik! Diejenigen Globalisierungseuphoriker, die das Heil schlicht in der Entmachtung der Politik sehen, sind in Wahrheit altliberale Marktfundamentalisten.

Eine konsequent neoliberale Position zur Globalisierung lautet anders: Der Staat soll sich zwar vor punktuellem Interventionismus in die Wirtschaft hüten, aber er hat die Rahmenbedingungen für einen fairen Leistungswettbewerb zu definieren und durchzusetzen: Wirtschaftspolitik ist "Rahmenpolitik". Belehrt durch die Erfahrung der Selbstvermachtungstendenz "natürlicher" Märkte, begreift der Neoliberalismus es als notwendige Aufgabe des Staates, offene Märkte und einen wirksamen Wettbewerb zu sichern. Neben der Bereitstellung der rechtlichen Voraussetzungen und einer funktionierenden Infrastruktur befürworten die Neoliberalen daher eine staatliche Wettbewerbspolitik, die den Marktzugang offen und den Wettbewerb intensiv hält. Die Schweiz hat diesbezüglich im Binnenmarkt durchaus Nachholbedarf.

Wer funktionierende globale Märkte will, der wird als konsequenter Neoliberaler eine globale Rahmenordnung befürworten. Auf der supranationalen Ebene bietet sich als zukünftige Instanz einer globalen Wettbewerbspolitik die Welthandelsorganisation (WTO) an.

"Gute" Ordnungspolitik

So weit, so gut. Das Problem ist nur, dass die neoliberale Konzeption dabei auf ein einziges Gestaltungskriterium für "gute" Ordnungspolitik fixiert ist: auf die Effizienz des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Doch das ist ein ökonomistisch verkürztes Verständnis von guter Politik. Denn diese hat es immer auch mit Gerechtigkeit im doppelten Sinne von Chancengleichheit und Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen zu tun. Hier aber sperrt sich der Neoliberalismus gegen sozial-, kultur-und entwicklungspolitische Gestaltungsbemühungen, soweit sie als "effizienzmindernd" eingestuft werden. Indem die ethisch-politische Aufgabe, die Rahmenordnung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs lebens-und gesellschaftsdienlich zu gestalten, auf Markteffizienz verkürzt wird, ist der Neoliberalismus in einem Zirkel befangen. Schon 1955 hat der grosse theologische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning dagegen treffsicher eingewendet, dass "die Massstäbe, nach denen die Wirtschaftspolitik sich auszurichten hätte, nicht aus der Wirtschaft selbst gewonnen werden können".

Gute Ordnungspolitik aber ist zweistufig zu denken: Die Wettbewerbspolitik ist zwar unverzichtbar, aber sie ist systematisch nachrangig gegenüber einer umfassenden, unmittelbar an Kriterien des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens der Menschen orientierten Vitalpolitik. Diese zieht alle Faktoren in Betracht, von denen in Wirklichkeit Glück, Wohlbefinden und Zufriedenheit des Menschen abhängen. Deshalb betonen die Ordoliberalen, dass der Marktrand, der Marktrahmen, das eigentliche Gebiet des Menschlichen ist, hundertmal wichtiger als der Markt selbst. Anders gesagt: Der Markt kann nicht wissen, wofür er effizient sein soll - das müssen wir ihm mittels geeigneter normativer Vorgaben schon selbst sagen!

Was folgt daraus für eine vernünftige Globalisierungspolitik? Globale Märkte bedürfen der doppelten weltweiten Einbindung - in eine supranationale Vitalpolitik ebenso wie in eine supranationale Wettbewerbspolitik. Was bisher allerdings weit gehend fehlt, sind wirkungsmächtige Instanzen einer supranationalen Vitalpolitik, die weltweite Menschen-und Bürgerrechte sowie humanitäre, soziale und ökologische Minimalstandards eines fairen Wettbewerbs gegen die "Sachzwänge" des Standortwettbewerbs durchsetzen können.

Ein menschenwürdiges Leben

Die entscheidende Frage ist dabei weniger, ob dafür eine oder mehrere supranationale Instanzen zu schaffen oder diese Aufgaben in die WTO zu integrieren sind. Entscheidend dürfte vielmehr sein, dass in immer mehr Ländern und in immer breiteren Bevölkerungskreisen ein tragfähiges, weltbürgerliches Bewusstsein wächst. Denn nur auf seiner Basis wird es vorstellbar, dass alle Menschen sich wechselseitig das moralische Recht auf die sozioökonomischen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens in Freiheit zuerkennen. Erst daraus kann allmählich der politische Wille zu einer "zivilisierten" Globalisierungspolitik wachsen, die für kulturelle Differenzen gleichermassen sensibel ist wie für das, was alle Menschen verbindet. Der Lernweg zu einer solchen Weltwirtschaftsordnung wird lang und steinig sein, aber es handelt sich wohl um die epochale Herausforderung des 21. Jahrhunderts.

BILD PETER PARKS/AFP

Eine andere Globalisierung ist nur möglich, wenn die Menschen sich wirtschaftlich selbst behaupten können.

ZUR PERSON

Peter Ulrich

Professor Peter Ulrich ist Leiter des Instituts

für Wirtschaftsethik an der Universität in St. Gallen. Er studierte Wirtschafts-und Sozialwissenschaften in Freiburg und habilitierte 1986 an der Universität Witten/Herdecke (Deutschland). Seit 1987 Ordinarius für Wirtschaftsethik in St. Gallen, war er von 1989 an auch Gründungsdirektor des gleichnamigen Instituts. Ulrichs wichtigstes Buch zum Thema liegt unter dem Titel "Integrative Wirtschaftsethik - Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie" in 3. Auflage (Verlag Paul Haupt, Bern 2001. 48 Fr.) vor.

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