Höhere Allgemeinbildung
von Univ. Prof. Dr. Roland Fischer
Was soll eine Maturantln wissen und können, das über die in der Pflichtschule vermittelte Alggemeinbildung hinausgeht? Woran orientiert sich die Auswahl der Inhalte für die Oberstufe des Gymnasiums und für den allgemeinbildenden Teil der berufsbildenden Höheren Schule?
Die Aufgabe der Pflichtschule scheint relativ k.lar: Sie soll das nötige Rüstzeug liefern, das jede/r brauchen kann, im Beruf, im Privatleben, im öffentlichen Leben. Lesen, Schreiben, Rechnen gehören dazu, eine Fremdsprache, heute auch schon eine "informatische Grundbildung", sowie ein Grundwissen über die Natur, die Welt, unsere Geschichte etc. Kriterien dafür, was dazugehört, ergeben sich aus den Notwendigkeiten des Lebens, wie sie für die meisten Menschen angenommen werden können. Wie sieht es aber mit den weiterführenden Schulen aus? Wie gewinnt man hier Kriterien für die Aufnahme in das Curriculum?
Kommunikationsfähigkeit mit Experten
Oft wird Studierfähigheit genannt: Die Schulfächer entsprechen Wissenschaftsdisziplinen, aber bei weitem nicht alle Wissenschaften haben ein Fach im Allgemeinbildungsteil der AHS bzw. BHS. Es ist eigentlich nur eine kleine Auswahl aus der alten philosophischen Fakultät. Man könnte sagen, die Grundlagenfächer sind vertreten. Aber auch innerhalb dieser Fächer stellt sich das Problem der Auswahl. Soll eine komprimierte Mini-Einführung in die jeweilige Wissenschaft gegeben oder sollen ausgewählte Schwerpunkte behandelt werden? In jedem Fall stellt sich die Frage: Welche Inhalte? Oft entzieht man sich dieser Frage, indem man die formale Bildung betont, für die Inhalte bloß ein Vehikel darstellen. Selbst Studierfähigkeit kann man so sehen: logisches Denken, sprachliche Kompetenz, Selbständigkeit, Informationsbeschaffungskompetenz etc. - heute spricht man von "Schlüsselqualifikationen" - sind wichtig. Sind die Inhalte dann austauschbar?
Ich meine, daß die Höhere Schule einen eigenständigen inhaltlichen Bildunqsauftrag hat, der sich nicht darin erschöpft, auf eine weiterführende Schule (Universität) vorzubereiten und auch nicht darin, bloß formales Rüstzeug für den Beruf und für den Alltag bereitzustellen. Ich schlage folgendes Orientierungsprinzip für die Frage der Aufnahme von Inhalten in den "Höheren" Allgemeinbildungskanon vor: Es geht um die Kommunikationsfähigkeit mit Experten. Damit ist zunächst eine Abgrenzung gegenüber den Fachstudien an den Hochschulen gegeben: Es geht nicht darum, selbst Experte zu werden in einem bestimmten Fach, aber man soll sich mit Experten verständigen können.
Dazu ein Beispiel: Ein Richter muß sehr oft zur Urteilsfindung Sachverständige bestellen: Chemiker, Ökonomen, Psychologen, vielleicht einmal einen Literaturwissenschaftler (in einem Pornographieprozeß) oder ein Sozialwissenschaftler. Die Fragen, die sich ein Richter stellen muß, sind u. a. die folgenden: Was kann ich von ,,Jenem Experten im jeweiligen Gebiet erwarten? Welche Relevanz hat das, was er sagt, für die gegenständliche Sache? Wie würdige ich die Expertise des Sachverständigen im Hinblick auf das Urteil? Der Richter muß Antworten auf diese Fragen geben, ohne daß er selbst Experte ist, und er darf die Beantwortung auch nicht den Experten überlassen.
Der mündige Bürger ist sehr oft in der Rolle eines solchen Richters. In vielen Fragen des öffentlichen aber auch des privaten Lebens wird er mit Expertenaussagen konfrontiert und muß sich ein Urteil bilden, um (mit)entscheiden zu können. Es
müssen nicht so große Fragen wie die Sicherheit von Atomkraftwerken oder die wünschenswerte Entwicklung der Gentechnologie sein; schon bei den Fragen gesunder Lebensgestaltung, Hausbau oder Jobsuche stellen sich Fragen, zu denen zwar aus jeweils spezifischer Perspektive Expertenmeinungen vorliegen, die einem aber die eigene Positionierung nicht ersparen. Man wird sich in der Regel darauf verlassen, daß die fachliche Richtigkeit der Expertise gegeben ist, daß sie auf dem letzten Stand ist und daß diesbezüglich eine gegenseitige Kontrolle der Experten einer Disziplin funktioniert. In der Frage der Wichtigkeit, d. h. für wie bedeutsam man ein bestimmtes Expertenurteil hält, wie man es gewichtet, da ist man auf das eigene Urteil angewiesen. Letzten Endes muß man über Experten urteilen, obwohl man weniger als sie selbst versteht.
... und mit allen
Was hier angesprochen ist, ist eigentlich als Kompetenz für alle Menschen wünschenswert, nicht bloß für die "höher Gebildeten". Daher darf auch niemand von dem Erwerb dieser Kompetenz ausgeschlossen werden. Auf der anderen Seite muß man, die Realität ernst nehmend, zumindest graduelle Unterschiede akzeptieren. Positiv gewendet könnte man den "höher Gebildeten" - ich nenne sie auch die "Intellektuellen" - auch eine spezifische Aufgabe zuweisen, nämlich eine Vermittlungsaufgabe. Sie sollten in besonderer Weise befähigt sein, zwischen Experten und der "Allgemeinheit" zu vermitteln. D. h. sie sollten das, was Experten meinen, in verständlicher Form erklären können, vor allem aber sollten sie in der Lage sein, Vorschläge für die Integration und Bewertung von Expertenmeinungen zu entwickeln. In besonderer Weise wird diese Kompetenz von Journalisten, vor allem von Wissenschaftsjournalisten, gefordert. Man könnte daher vereinfacht sagen: Ein höher gebildeter Mensch sollte (u. a.) wissenschaftsjournalistische Kompetenz besitzen. Damit ist das oben genannte Orientierungsprinzip "Kommunikations- fähigkeit mit Experten" zu ergänzen: "Kommunikationsfähigkeit mit Experten und mit der Allgemeinheit".
Es wird damit ein Elitenkonzept vertreten, allerdings ein in gewisser Weise paradoxes, demokratisches Elitenkonzept. Die gemeinte Elite zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß sie mit allen gut umgehen kann. Für ein solches Elitentum kann man nicht durch Absonderung von den anderen, d. h. in speziellen Eliteschulen, ausgebildet werden, sondern man braucht den Kontakt mit allen Bildungsschichten. Absonderung fördert in der Regel ein dem Fachidiotentum analoges Standesidiotentum. Faßt man übrigens lehrer-Sein nicht bloß als Job sondern als Erfüllung einer allgemeinen gesellschaftlichen Funktion auf, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten leben eine Rolle spielen kann, so ist es diese: Vermittlung zwischen Expertentum und Allgemeinheit.
Drei Ebenen des Wissens
Wie hängen Allgemeinbildung und Spezialistenausbildung zusammen? Die gängige (ausgesprochene oder unausgesprochene) Philosophie ist, daß Allgemeinbildung dadurch erworben wird, daß man möglichst viele Stückchen Spezialausbildungen mitmacht, d. h. mit vielen verschiedenen Experten ein Stück des Ausbildungsweges mitgeht. In der didaktischen Diskussion spricht man gelegentlich vom "Schüler als Forscher", meinend, daß es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem lernenden Eindringen in ein neues Fachgebiet und der forschenden Entdeckung neuer Fakten, Gesetzmäßigkeiten und Theorien gäbe. Das mag stimmen, vom gewünschten Ergebnis her sehe ich allerdings einen Unterschied zwischen fachlichen Bildungsprozessen mit der Intention Allgemeinbildung und solchen mit der Intention Expertenausbildung.
Ich teile die in Bezug auf ein Fach zu erwerbenden Kompetenzen in drei Bereiche: erstens Grundkenntnisse (Konzepte, Begriffe, Darstellungsformen) und -fertigkeiten, zweitens mehr oder weniger kreatives Operieren damit im Bereich der Anwendung (Problemlösen) oder zur Generierung neuen Wissens (Forschen), und drittens Reflexion (Was ist die Bedeutung der Begriffe und Methoden, was leisten sie, wo sind ihre Grenzen). Experten müssen in allen drei Bereichen kompetent sein, für die gebildeten laien hingegen sind vor allem der erste und der dritte Bereich, also Grundwissen und Reflexion, von Relevanz. Ersteres ist Voraussetzung für die Verständigung mit Experten, das Dritte ist notwendig für die Beurteilung der Expertisen.
Die Grenzen zwischen diesen drei Ebenen sind fließend und hängen von den Vorkenntnissen ab. Kreatives Operieren kann routienisiert und damit eine Grundfertigkeit werden, sogar Reflexionselemente können zum Grundwissen werden. Was für den einen Grundwissen ist, kann für den anderen eine kreative Anwendungsaufgabe sein. Dennoch glaube ich, daß diese Unterscheidung für die Diskussion über die Auswahl von Inhalten hilfreich sein kann.
Das Gesagte bedeutet nun nicht. daß man im Prozeß der Allgemeinbildung auf das Operieren gänzlich verzichten kann. Erstens kann es motivierend sein, zweitens ist es für das vertiefte Verständnis des Grundwissens teilweise nötig, drittens liefert es Anlässe für Reflexion, viertens können damit allgemeine Arbeitstugenden wie Genauigkeit oder Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit trainiert werden und fünftens kann es für die Motivation, selber Experte zu werden, förderlich sein. Das betrifft den Prozeß. Vom Ergebnis her gesehen, d. h. vom Standpunkt, was letzten Endes und längerfristig "übrig" bleiben soll, sind für den Laien Grundwissen und Reflexion viel bedeutsamer. Es wäre auch unrealistisch, zu erwarten, daß gymnasial gebildete Menschen in der Oberstufe gelernte mathematische Methoden in relevanten Zusammenhängen anwenden, physikalische Versuche oder philologische Untersuchungen durchführen können. Sie sollen aber die Ergebnisse, die Experten erzielt haben (und in entsprechend aufbereiteter Form anbieten), in nötigem Ausmaß verstehen und für sich bewerten können.
Ein Aspekt von "Reflexion" sei genannt, der für Intellektuelle wie für Spezialexperten gleichermaßen von Bedeutung ist: Metawissen. Zu wissen, was man weiß, welche Ressourcen man zur Verfügung hat, ist sowohl für Orientierung suchende Laien als auch für Probleme lösen sollende Experten von hoher Bedeutung.
Betonung von Reflexion
Vergleicht man die hier angestellten Überlegungen mit der (Schul-) Realität, so bedeuten sie eine Reduktion der Ansprüche im Bezug auf Operieren und eine Erhöhung der Ansprüche im Bezug auf Reflexion. Ich möchte dies an einem Beispiel aus der Statistik erläutern. Die folgende Testaufgabe wurde von lehrern bei einer Fortbildungsveranstaltung entwickelt:
Bei der letzten Wahl gewann die XPÖ 30 % der Stimmen. Eine Blitzumfrage von 100 Personen ergab einen Anteil von 23 %. Wenn sich der Anteil nicht geändert hat, hat dieses Ergebnis (einschließlich eines für die XPÖ noch schlechteren) eine Wahrscheinlichkeit von 6 % (kann man errechnen).
Was folgt daraus auf dem Signifikanzniveau 0,95:
A Die Partei hat in der Wählergunst abgenommen.
B Aus dem Testergebnis kann nicht geschlossen werden, daß die Partei Stimmen verloren hat.
C Die Partei hat in der Wählergunst nicht abgenommen, denn die Abweichung ist mit 94 % zufällig.
D Die Partei hat in der Wählergunst nicht abgenommen, denn der Stichprobenumfang ist zu gering.
Die Pointe ist nun die folgende: Als übliche Schularbeitsaufgabe oder auch als Maturaaufgabe würde man bei dieser Fragestellung das Ergebnis der Rechnung nicht angeben, sondern die Rechnung selbst vom Schüler durchführen lassen. Die Interpretationsfrage wäre allenfalls eine Zusatzfrage, für die man ein oder zwei Punkte (von etwa sechs) bekommen könnte. Im Sinne des hier vertretenen Bildungskonzepts steht sie im Zentrum (und ist wahrscheinlich auch die, bei der man eine Chance hat, daß die diesbezügliche Kompetenz längerfristig zur Verfügung steht).
In der Schulrealität des Mathematikunterrichts wird dem Operieren oft ein höherer Stellenwert zugebilligt als der Reflexion, manchmal sogar ein höherer Stellenwert als einer soliden Beherrschung von Grundwissen. Das mag in einem pädagogischen Konzept begründet sein, das Aktivitäten der Lernenden hochwertet, wobei aber nicht genügend Aufmerksamkeit auf die Art der Aktivitäten gerichtet wird. Es gibt auch das Bestreben, Abprüfbares zu bevorzugen (und das sind oft Ergebnisse von Operationen). Wenn man sich auf Routine-Operationen beschränkt, ist überdies das Operieren auch für die Lernenden nicht allzu schwer, jedenfalls leichter als das verständige Interpretieren und es ergibt sich daraus eine Leistungsmöglichkeit für "schwächere" Schüler. Es gibt noch einen, weniger edlen, Grund, der die Unterbetonung von "Reflexion" erklärt: Als Fachmensch Nicht-Fachleuten zuzugestehen, daß sie Grenzen des Faches erkennen und damit über einen selbst urteilen, ist unangenehm und kostet Überwindung. Und Reflexion schließt Bewertungen ein.
Ich nehme an, daß diese Überwindung im Rahmen der derzeitigen Struktur des Schulunterrichts kaum leistbar ist. Ich meine mit Struktur hier die Gliederung des Unterrichts in Fächer, die nebeneinander stehen, zueinander in Konkurrenz, aber ohne wirklichen Bezug zueinander. Anders ausgedrückt: Die mit Reflexion immer verbundene Relativierung von Fachwissen hat nur in einem interdisziplinären Ansatz eine Chance. Dieser interdisziplinäre Kontext wäre an der Schule durch das Vorhandensein von Lehrerinnen und Lehrern verschiedener Fächer auf engstem Raum - im Unterschied zur Universität, wo sie durch Institute voneinander abgeschottet sind - in hervorragender Weise gegeben. Es ist schade, daß das so wenig genützt wird und daß man sich eher die Fachorientierung der Universität zum Vorbild nimmt und darauf verzichtet, einen eigenständigen Beitrag zur Bildung der Gesellschaft zu leisten, der eben nicht bloß in der Vorbereitung auf Fachstudien besteht.
Aushandeln
Aus den vorgeschlagenen Orientierungsprinzipien "Kommunikationsfähigkeit mit Experten und mit der Allgemeinheit" sowie aus der Betonung von Grundwissen und Reflexion folgen nicht zwingend die Inhalte der Oberstufe der Höheren Schule. Was man wissen und verstehen muß, um mit Experten verschiedenster Fachrichtungen kommunizieren zu können, ist nicht eindeutig und nicht objektiv ableitbar. Es ist von der Gesellschaft normativ festzulegen und damit eine Entscheidung. Anders ausgedrückt, es ist Ergebnis eines Prozesses des Aushandelns, insbesondere eines Aushandelns zwischen Experten und der Gesellschaft. Oblicherweise werden für solche Aushandelungsprozesse Lehrglankommissionen eingerichtet. Ein Problem dabei ist, daß die Experten in der Regel unter sich bleiben. Es fehlen die höher allgemeingebildeten Intellektuellen, die als Partner in diesem Aushandelungsprozeß notwendig wären. Zwar kann bis zu einem gewissen Grad von einer gegenseitigen Relativierung der Experten ausgegangen werden, in der Regel kommt es aber zu einem Oberangebot an Inhalten. Für die Experten ist es natürlich leichter, mit der Allgemeinheit zu kommunizieren, wenn diese schon viel weiß über das jeweilige Fach. Eine quantitative Beschränkung etwa durch vorgegebene Stundenzahlen funktioniert nicht wirklich. Auch hier könnte Interdisziplinarität einen Fortschritt bringen, nämlich den, daß die Wichtigkeit von Inhalten zumindestens Vertretern anderer Fächer verständlich gemacht werden müssen.
Ein zweites Problem gängiger Aushandelungsprozesse ist die mangelnde Öffentlichkeit. Es gibt vielleicht noch eine öffentliche Diskussion über die Relevanz von Fächern - wie wichtig sind Fremdsprachen, Informatik, etc. - diese ist aber sehr oberflächlich. Eine Diskussion über konkrete Inhalte wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt, wodurch sich eine Kluft zwischen dem, was in der Schule für wichtig gehalten wird und dem, worüber die Menschen sonst diskutieren, auftut. Der von Naturwissenschaftlern oft beklagte Umstand, daß die Inhalte ihrer Fächer nicht zur Kultur gerechnet werden, hängt damit zusammen. Hier muß man allerdings genauer sein. Ich meine, daß nur solche Inhalte eine Chance haben, öffentlich diskutiert zu werden und damit zur Kultur zu gehören, zu denen man unter- schiedlicher Meinung sein, d. h. persönlich Position beziehen kann. Schärfer ausgedrückt: Potentielle Konflikthaftigkeit ist notwendige Voraussetzung für kulturelle Relevanz. Die Naturwissenschaften erreichen in der Regel bestenfalls nur ein schuld bewußtes Eingeständnis, daß sie wichtig sind, ohne daß sich viele Menschen wirklich für sie interessieren. In Bezug auf die Mathematik meine ich beispielsweise, daß eine Auseinandersetzung über Fragen wie "Wie wichtig ist Wahrscheinlichkeit?" oder "Wie bedeutsam sind graphische Darstellungsmittel?" oder "Was leistet eine compunterunterstützte Systemdynamik?" durchaus mit intellektuellen laien öffentlich diskutiert werden können.
Das Konzept "Aushandeln" gilt aber nicht nur für Lehrplankommissionen und für den öffentlichen Diskurs. Im Unterricht selbst findet ein Aushandeln über den Sinn und die Bedeutung von Inhalten statt. Die Frage ist, wie explizit und mit welcher kommunikativen und inhaltlichen Qualität dieses Aushandeln passiert. Ein schlichter Beitrag von Seiten der Schüler zu diesem Aushandelungsprozeß kann Verweigern oder Vergessen sein. Am schlimmsten im Sinne der Wertschätzung für das jeweilige Fach sind die Heimtückischen: Sie lernen, haben oft ganz gute Noten, vergessen aber und sagen später: "Eigentlich hat mich das Fach nie berührt". Positiv gewendet heißt dies: Es ist eine explizite Auseinandersetzung über den Sinn und die Bedeutung von Inhalten zu führen, wobei auch ablehnende Positionen vorkommen dürfen. Zumindest müssen Unterschiede in der Bewertung der Inhalte gemacht werden: Wenn alles, was angeboten wird, in gleicher Weise bedeutsam sein soll, dann ist es gleich-gültig. Subjektive Einschätzungen von Lehrern und Schülern müssen eine Rolle spielen. Noch prinzipieller gesagt: Gerade im Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Vorgeschlagenen im Stellen der Frage: "Was bedeuten die Inhalte für mich, was bedeuten sie für die Gesellschaft, was bedeuten sie für uns als Lerngemeinschaft (als Zwischenglied)?", vollzieht sich Bildung.
Zielwissen
Aushandeln heißt nicht notwendigerweise, daß Schüler (mit)bestimmen, was gelehrt wird. Es bedeutet aber, daß sie sich zu dem Gelehrten explizit wertend verhalten sollen. Zumindestens als eine Reflexion im Nachhinein ist das jedenfalls möglich. Man sollte sich mit der Frage auseinandersetzen: "Was haben wir gelernt, was hat es für eine Bedeutung, was sollten wir uns merken?" Man kann als Lehrer die Aufgabe stellen: "Schreibt auf, was Ihr in den letzten zwei Monaten, im letzten Halbjahr, im letzten Jahr gelernt habt, auf ein, zwei oder vier Seiten oder noch weniger'. Die Vorgabe von wenig Raum zwingt zur Konzentration, zur Verdichtung und zur Entscheidung über Wichtigkeiten. Ebenso kann die Uournalistisch orientierte) Aufforderung zu plakativen Formulierungen diesen Effekt haben. Das Ganze kann individuell oder kollektiv stattfinden und zielt auf Identifikation von so etwas wie "Zielwissen" ab, das langfristig behalten wird. Ein paradoxer Effekt dabei ist, daß selbst bei Inhalten, die einem uninteressant vorkommen, durch die Notwendigkeit der Begründung, warum sie uninteressant sind, eine Auseinandersetzung mit Ihnen stattfindet.
Es soll aber nicht ausgeschlossen sein, daß im vorhinein ein Aushandeln über das, was gelehrt werden soll, stattfindet. Dem üblichen Einwand, daß man darüber, was man nicht kennt, nicht verhandeln oder gar nicht reden kann, ist entgegenzuhalten, daß außerhalb der Schule Entscheidungen über uns unbekannte Inhalte von uns immer wieder verlangt werden. Wenn wir nicht mehr so wie in der Schule an der Hand geführt werden, von einer Wichtigkeit zur nächsten, wenn es also keinen verpflichtenden Lehrplan mehr gibt, sind wir ständig gezwungen, Entscheidungen darüber zu treffen, mit welchen Dingen wir uns näher beschäftigen wollen und mit welchen nicht. Damit eine solche Entscheidung möglich ist, sind Angebote zunächst einmal so zu formulieren, daß sie eine erste Ahnung von dem zu Lernenden erzeugen. Insbesondere sollten Zielwissens-Vorschläge so formuliert sein. Es wäre natürlich auch vorteilhaft, wenn Lehrpläne so verfaßt wären, daß sie zumindestens für den höher gebildeten Laien verständlich sind. Dies spricht einerseits gegen eine extensive Verwendung von Fachausdrücken aber andererseits auch gegen eine zu starke Pädagogisierung. Es sollten einfach jene Fachkonzepte, Wissensbereiche und Fertigkeiten genannt werden, die im Sinne des Grundwissens anzustreben sind. Die oft in Lehrplänen genannten anzustrebenden höheren Fähigkeiten oder sogar Dispositionen können zum Teil im Verhandlungsprozeß im Klassenzimmer entstehen, können aber selber nicht Verhandlungsgegenstand sein. Beispielsweise ist "Wertschätzung für Mathematik" etwas, das ich als Mathematiker legitimerweise beim Schüler erzeugen mächte, darüber verhandeln kann ich mit ihm direkt nicht.
Bildung als gesellschaftlicher Prozeß
Lehrplankommissionen und die Schulklasse sind die Extrempositionen des gesellschaftlichen Aushandelungsprozesses. Es gibt Zwischenglieder: Das können regionale Lehrerarbeitsgemeinschaften sein, das kann der interdisziplinär zusammengesetzte Lehrkörper einer Schule sein. Diese verschiedenen Ebenen sollten miteinander gekoppelt sein, nicht notwendigerweise durch ein striktes Weisungsrecht von zentralen staatlichen Stellen hin zum Unterricht.
Jede Aushandlungsebene muß einen bestimmten Spielraum haben, in dem sie Entscheidungen zu treffen hat. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß die jeweils zentraleren Ebenen, also zunächst die Lehrplankommissionen, bloß ein Vorschlagsrecht haben dafür, was sie als verbindliches Allgemeinwissen für sinnvoll halten. Die nächsten Ebenen hätten dann die Verpflichtung, sich damit auseinanderzusetzen, aber auch die Möglichkeit, dies mit einem negativen Ergebnis zu tun, d. h. einen Inhalt abzulehnen, sofern sie dies öffentlich begründen (wobei die geeignete Öffentlichkeit erst zu organisieren wäre). Denn wie schon oben erwähnt, in der Begründung mit dem Vorgeschlagenen ist bereits die Auseinandersetzung enthalten. Außerdem sollen ja auch dezentral initiierte Weiterentwicklungen möglich sein. Eine wichtige Rolle in der Koppelung verschiedener Ebenen können Fortbildungsveranstaltungen sein, in denen dann auch der Wissenschaft ein Vorschlagsrecht zukommt.
Letzten Endes geht es um einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß über Inhalte bestimmter Grunddisziplinen (derzeit überwiegend der ehemaligen philosophischen Fakultät). Man kann dies auch als einen Beitrag zur Kohärenz von Gesellschaft auf einer inhaltlichen Diskussionsebene sehen. Wir leben derzeit in einer Gesellschaft, die überwiegend durch Regelungsmechanismen, seien es politisch-bürokratische oder marktmäßige, zusammengehalten wird. Eine solche Gesellschaft kommt immer dann in Probleme, wenn grundsätzliche Entscheidungen, insbesondere solche, die mit Werten zusammenhängen, getroffen werden müssen. Eine solche Gesellschaft hat kein Bewußtsein, sie funktioniert bloß. Das hier vorgeschlagene Konzept von Allgemeinbildung, bei dem der Bereich Schule nicht isoliert gesehen wird, auch nicht das einzelne Fach, versteht sich nicht als ein Weg zu einem für alle verbindlichen normierten Wissen, sondern als ein permanenter Prozeß der Auseinandersetzung mit immer neuen Vorschlägen, getragen von dem Streben nach Gemeinsamkeit, allerdings ohne inhaltlichen Dogmatismus. Meines Erachtens ist das ein Weg, "Bewußtsein" für Gesellschaft heute zu definieren, und damit einen Schritt zur Überwindung der existierenden Regelgesellschaft zu tun.
Literatur:
Fischer, R. (1999): Wissenschaft und Bewußtsein der Gesellschaft. In: Gubitzer, L., Pellert, A. (Hrsg.): Salbei und Opernduft. Reflexionen über Wissenschaft. Zeitschrift für Hochschuldidaktik 3/98, S. 106-120