Tacheles - das Streitgespräch
Ich kann mit dem Paragraphen 218 leben. Er ist ein Kompromiss, über den man nicht fröhlich sein kann, aber er ist ein Kompromiss, der die Tatsache ernst nimmt, dass es in Schwangerschaftskonflikten immer um zweierlei geht: um den Schutz des Lebens und um die Wahrnehmung der Lebenssituation der Mutter und der Konflikte, in denen sie sich möglicherweise befindet. Und meine Beschäftigung mit dem Thema hat zu dem Ergebnis geführt, dass jede rigide Lösung eine der beiden Seiten vernachlässigt.
Warum können Sie dann nicht dem Klonen von Stammzellen leben?
Weil es sich da um etwas anderes handelt. Im Fall des Klonens von Stammzellen, beim sogenannten therapeutischen Klonen, wird Leben überhaupt nur zu dem Zweck erzeugt, dass es verbraucht und dann auch beendet wird. Das ist beim Schwangerschaftskonflikt anders. Da lehne ich ja gerade eine Position ab - das wäre das eine Extrem -, die sagt: Schwangerschaftsabbruch ist nur eine Form der Geburtenkontrolle. Diese rigide Entscheidung ist genauso zu kritisieren wie die andere, die sagt: Nur der Lebensschutz zählt, und was mit der Mutter passiert, ist nicht interessant. Im Fall des therapeutischen Klonens haben wir den Vorgang, dass ein Embryo erzeugt wird, um aus ihm Zellen zu entwickeln, und der Embryo selbst, als ein mögliches werdendes Leben, zählt nicht. Außerdem muss man sich klar machen, dass die Grenze zwischen dem therapeutischen Klonen und dem reproduktiven Klonen - ein Klonen zum Erzeugen von menschlichen Personen - im Ernst gar nicht gezogen werden kann. Wir "erreichen" also mit dem Schritt, der jetzt in England frei gegeben worden ist, beides zugleich: Wir räumen die Dämme weg, die einer weiteren Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs jetzt noch entgegen stehen, und wir räumen die Dämme weg, die bisher dem reproduktiven Klonen im Wege stehen. Das sind die beiden Gründe, deretwegen ich einen ganz großen Vorbehalt gegenüber dem therapeutischen Klonen habe, obwohl ich die Zielsetzung bejahe - die Zielsetzung nämlich, die auf die Heilung von sehr schrecklichen Krankheiten gerichtet ist.
Sind Sie derjenige, Bischof Huber, der einem Todkranken sagen wird: Wir könnten ein Ersatzorgan für dich züchten, was dir das Leben retten würde, aber wir tun’s nicht, weil uns ein 14 Tage alter Zellklumpen wichtiger ist als dein Leben?
Mein Wunsch ist, dass derjenige Entwicklungsweg intensiver geprüft wird, der von erwachsenen Stammzellen ausgeht und nicht von der Erzeugung von Embryonen, d.h. von Stammzellen, die Erwachsenen entnommen worden sind. Mir geht es auch darum, dass dieser Weg nicht dadurch verbaut wird, dass man meint, es müsste unbedingt auf dem Weg des therapeutischen Klonens geschehen. Aber meine Stellungnahme zu dem Thema fängt damit an, dass ich die Ziele und Hoffnungen ernst nehme, die damit verbunden sind.
Findet hier nicht auch eine Auseinandersetzung um ein Menschenbild statt? Mit dem Argument, etwas diene der Gesundheit, kann man heute ungeheuer viel durchsetzen. Gleichzeitig ist die Kirche die Verwalterin eines Menschenbildes, in dem der Mensch nicht gesund und stark, sondern schwach und leidensanfällig ist. Tut die Kirche genug, um dem grassierenden Bild von Erfolg und Gesundheit entgegenzutreten?
Der christliche Glaube vertritt ein Menschenbild, das das Leiden einschliesst und nicht verdrängt. Er vertritt ein Menschenbild, das die Verletzlichkeit des Menschen ernst nimmt. Aber das bedeutet ja nicht, dass ihm die menschliche Stärke gleichgültig wäre, dass er Gesundheit nicht zu loben und für sie nicht zu danken wüsste. Dieses Menschenbild bedeutet nicht, dass das Leiden als solches verherrlicht würde. Insofern gehört zu diesem Menschenbild, dass dem Menschen die Aufgabe gestellt wird, vermeidbares Leid zu vermeiden und überwindbares Leiden zu überwinden. Niemand von uns sagt, dass wir die Tätigkeit der Ärzte einstellen wollen, weil die Christenheit ins Leiden verliebt wäre. Mir bleibt dieser Gesichtspunkt auch ein bißchen im Halse stecken, wenn ich Menschen mit schwerer Alzheimer-Erkrankung vor Augen habe, oder den von mir sehr verehrten Menschen vor Augen habe, der an Parkinson erkrankt ist. Ich sage nicht: So soll es bleiben, denn zum Menschsein gehört doch das Leiden. Ja, das Leiden gehört zum Menschsein, aber ich würde den Kranken wünschen, dass es gemindert und überwunden werden könnte.
Der katholische Kardinal Ratzinger hat in der vergangenen Woche das Dokument "Dominus Iesus" veröffentlicht, in dem es um den Dialog der Religionen und der christlichen Konfessionen geht. Darin wird in Frage gestellt, ob die evangelischen Kirchen als Schwesterkirchen der katholischen Kirche zu betrachten sind. Ist für Sie die katholische Kirche eine Schwesterkirche - oder ist sie auch für Sie die Mutterkirche?
Nein, die katholische Kirche ist eine Schwesterkirche in der universalen Christenheit. Und zwar genau aus dem Grund heraus, den dieses Dokument der Glaubenskongregation selber geltend macht. Sie sagt: für Christen muss die Einzigartigkeit der Heilsbedeutung Jesu Christi gewahrt und anerkannt werden. Das bejahe ich ohne jeden Vorbehalt und weise darauf hin, dass dies genau die Einsicht gewesen ist, die die Bekennende Kirche in Deutschland in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes mühsam neu erarbeitet und niedergelegt hat in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Sie beginnt mit der Aussage, Jesus Christus sei das eine Wort Gottes, das wir hören und dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Die Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche meint, sie müsste die Kirchen der Reformation auf die niedrigste denkbare Stufe des Kircheseins herabrücken, ändert nichts daran, dass wir mit guten Gründen sagen: Wir sind Kirche Jesu Christi aus Gründen unseres eigenen Bekenntnisses.
Laut Kardinal Ratzinger sind Sie Bischof einer Kirche, die keine "Kirche im eigentlichen Sinne" ist. Damit ist doch jedwedes Ökumene-Gespräch für die protestantische Kirche gescheitert.
Nein, von der katholischen Kirche ist das in Frage gestellt, und daher muss die katholische Kirche nun Auskunft geben, was sie denn gemeint hat, als sie vor einem Jahr im Zusammenhang mit der Erklärung zur Rechtfertigungslehre ausdrücklich unterschrieben hat, dass solche Gespräche bedeuten, dass man einander von Gleich zu Gleich begegnet, dass man sich am Modell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit orientiert. Die katholische Kirche hat doch mit dem Dokument "Dominus Iesus" diese ihre eigene Unterschrift widerrufen. Und nicht nur das, sondern sie hat de facto auch widerrufen den Geist und den Inhalt des Schuldbekenntnisses von Papst Johannes Paul II. vom 12. März dieses Jahres! In dem das Leiden an der zerbrochenen Einheit der Christenheit auch als ein Leiden der katholischen Kirche und in dem diese fehlende Einheit auch als eine Wunde am Leib der römisch-katholischen Kirche bezeichnet wurde, in dem eine Mitschuld auch der Söhne und Töchter der katholischen Kirche am Zerbrechen dieser Einheit ausdrücklich bekannt worden ist. Von diesem Geist spürt man in dem Dokument von Kardinal Ratzinger keine Spur.
Wolfgang Huber: Studium der Theologie in Heidelberg, Göttingen und Tübingen, Vikar und Pfarrer in Württemberg, 1968-1980 Stellv. Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg, 1972 Habilitation, 1980 Professor für Sozialethik in Marburg, 1984 Professor für Systematische Theologie in Heidelberg, 1983-1985 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, 1989 Lilly Visiting Professor an der Emory University in Atlanta/USA, seit 1994 Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.
(c) DIE ZEIT 38/2000